Herausforderung Candidate Experience in einem Bewerbermarkt

Die Jahrzehnte bestimmende Dominanz des Arbeitgebermarktes ist abgelöst. In der Konsequenz hat sich das Machtgefüge zwischen Arbeitgebern und -nehmern deutlich verschoben. Die Asymmetrie zugunsten der Unternehmen ist einem Begegnen auf Augenhöhe gewichen. Dies erfordert ein grundlegendes Umdenken im Recruiting, insbesondere im direkten Kontakt mit Bewerbern. Hier können Arbeitgeber von den Erfahrungen der Headhunter im Umgang mit Kandidaten profitieren, damit sie im Kampf um die besten Köpfe nicht abgehängt werden.

Seit Jahren beobachten wir einen radikalen Wandel auf dem Arbeitsmarkt in Richtung Bewerbermarkt. Die Arbeitslosenquoten in Deutschland und in der Schweiz befinden sich auf einem Rekordtief, in einigen Regionen herrscht beinahe Vollbeschäftigung. Vorbei sind die Zeiten, als sich Arbeitgeber aus einer Fülle von Bewerbern* die Rosinen herauspicken konnten. Stattdessen finden sie sich im Kampf um die besten Köpfe in einer intensiven Konkurrenzsituation mit ihren Wettbewerbern wieder. Eine Entwicklung, die sich aller Voraussicht nach in den kommenden Jahren noch verstärken wird, wenn die Arbeitskräfte der kinderreichen Generationen aus den sechziger Jahren den Arbeitsmarkt verlassen.

Viele Unternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt und ihre Rekrutierungsstrategien überdacht. Ein bisher eher passives Abwarten in Folge einer Stellenausschreibung ist immer seltener anzutreffen, die Unternehmen sind aktiver geworden. Sie nutzen verstärkt soziale Netzwerke sowie die Expertise von Personaldienstleistern und geben sich unter dem Stichwort „Employer Branding“ redlich Mühe, sich offensiv als attraktive Arbeitgeber auf dem Markt zu positionieren. Die Bereitschaft, den Ansprüchen der Bewerber entgegenzukommen, wächst und nimmt zum Teil groteske Formen an.

Dennoch fällt auf, dass im besonders entscheidenden, direkten Kontakt mit den Bewerbern häufig an alten Gewohnheiten festgehalten wird. Nach wie vor beklagen Aspiranten auf eine Vakanz, dass sie mehr als Bittsteller denn potenzielle Partner behandelt werden. Nicht selten ziehen sie ihre Bewerbung deshalb zurück oder entscheiden sich für einen alternativen Arbeitgeber. Als Personalberater kennen wir den Umgang mit nur latent wechselwilligen Kandidaten, die hohe Ansprüche an einen Wechsel knüpfen und für diesen vielfach erst begeistert werden müssen, nur allzu gut. Attraktive Kandidaten, die von einem Mitbewerber abgeworben werden sollen, erfordern seit jeher eine andere Vorgehensweise als aktiv suchende Bewerber. Die Kenntnis und situationsadäquate Berücksichtigung dieser Besonderheiten erhöht auch im Umgang mit klassischen Bewerbern die Chancen, im „War for Talents“ eine Nasenlänge voraus zu sein.

Bewerbermanagement: Faktor Zeit

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ – nie zuvor hatte dieser Ausspruch Michail Gorbatschows für das Recruiting solche Gültigkeit wie heute. Kurze Bewerbungsprozesse, natürlich online und mobile-optimiert, sind mittlerweile selbstverständlich. Wenn es dann aber um die zügige Fortführung und Konkretisierung des Bewerbungsverfahrens geht, scheitern viele Unternehmen an langwierigen internen Prozessen und/oder fehlendem Verständnis für die Marktgegebenheiten. Erhält ein über einen Headhunter aktivierter Kandidat nicht innerhalb von zwei Wochen einen Termin für die Vorstellung, büßt die beworbene Position ihren Reiz zunehmend ein und der Kandidat folgert zu Recht auf mangelndes Interesse, mangelnde Professionalität oder den Versuch, Zeit zu gewinnen. Wer heute aktiv abwerben möchte, muss konsequent während des gesamten Bewerbungsprozesses rasche Reaktionszeiten und Entschlossenheit an den Tag legen. So signalisiert man ernsthaftes Interesse und Respekt gegenüber dem Kandidaten und vermittelt zugleich Macherqualität. Gut qualifizierte Arbeitskräfte werden häufig parallel angesprochen, im Zweifel setzt sich das entscheidungsfreudigere Unternehmen durch. Gleiches gilt für die Rückmeldung nach einem bereits geführten Interview. Ob positiv oder negativ: Ein zügiges und klares Feedback ist unbedingt angeraten. Auch fungiert jeder Kandidat, der vor Ort war, fortan als Multiplikator seiner Eindrücke. Ein nicht zu unterschätzender Effekt, schließlich nutzen viele Bewerber Plattformen wie kununu, um sich anhand der Bewertungen von (ehemaligen) Mitarbeitern und anderen Bewerbern ein erstes Bild von einem Arbeitgeber zu verschaffen. Grundsätzlich machen wir als Berater immer wieder die Erfahrung, dass langwierige Entscheidungsprozesse über verschiedenste Hierarchiestufen oder strategisches Aufschieben einer Entscheidung die Geduld hochqualifizierter Kandidaten überstrapazieren und schlimmstenfalls zu deren Ausstieg aus dem Prozess führen. Hierbei gilt: Arbeitgeber, die Kandidaten oder Bewerber als unpassend beurteilen, weil diese sich nicht auf träge und zeitraubende Verfahren einlassen möchten, haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Das Vorstellungsgespräch: Form und Inhalt

Kandidaten sind anspruchsvoll. Dies gilt insbesondere für aktiv angesprochene Fachkräfte, aber auch zunehmend für klassische Bewerber, die selbst auf das Unternehmen zugekommen sind. Potenzielle Mitarbeiter wollen genauso ernstgenommen werden wie Kunden und stellen hohe Ansprüche an das Unternehmen und den Rekrutierungsprozess. Ihr Informationsbedarf ist ebenso hoch, wie der des Unternehmens. Sie erwarten ein Vorstellungsgespräch auf Augenhöhe, in welchem auch der potenzielle Arbeitgeber in der Pflicht steht, zu informieren und zu überzeugen. In der Konsequenz sollte beispielsweise den Fragen eines Kandidaten ausreichend Zeit eingeräumt werden. Klassische „Kreuzverhöre“ mit anschließender Option, am Schluss noch Fragen zu stellen, sind obsolet. Sinnvoller ist ein offener Austausch, der Raum lässt für eine situationsgerechte Entwicklung des Gesprächs. Dies stellt hohe Ansprüche an die Interviewer und setzt eine gründliche Vorbereitung und Sichtung der Kandidatenunterlagen voraus. Generell wünschen sich Kandidaten seitens des Unternehmens eine ebenso gründliche Gesprächsvorbereitung, wie sie auch von ihnen erwartet wird. Fachvorgesetzte oder Geschäftsführer, die offensichtlich erst während des Interviews einen gründlichen Blick in den Lebenslauf werfen, riskieren den Eindruck mangelnden Interesses; zudem ist fraglich, ob sie ohne genaue Kenntnis des Werdegangs zielführende Fragen stellen können. Kompetente Personalberater stellen ihren Auftraggebern alle relevanten Informationen zu den Kandidaten zur Verfügung. Daher ist es nicht notwendig, bereits im Vorfeld abgeklärte Eckdaten wie die Verfügbarkeit oder Mobilität im Gespräch nochmals im Detail auszurollen. Für die Abklärung der Gehaltsvorstellungen gilt dies jedoch ausdrücklich nicht. Hier geben sich souveräne Kandidaten in der Regel nicht mit einem per Arbeitsvertrag zugesandten Angebot zufrieden, sondern erwarten eine im Vorfeld geführte Verhandlung der beiderseitigen Vorstellungen.

Arbeitgeberauftritt: Wording und der erste Eindruck

Insbesondere Arbeitgeber ohne bekannten Markennamen oder attraktives Image am Arbeitsmarkt sollten sich intensiv Gedanken über ihren Auftritt in Vorstellungsgesprächen machen. Unternehmen, die hier einen guten Eindruck vermitteln, punkten bei Kandidaten und Bewerbern. Entscheidend sind insbesondere eine offene und transparente Kommunikation sowie die Darstellung der Erwartungen und des eigenen Unternehmensprofils. Eine realistische Tätigkeitsvorschau, welche idealerweise auch die Vorstellung künftiger Kollegen und Vorgesetzter sowie eine Unternehmensführung beinhaltet, offenbart dem Kandidaten, dass das Unternehmen es ernst mit ihm meint, und bietet ihm zudem das notwendige Wissen, um eine nachhaltige und wohlbedachte Entscheidung zu fällen. Kandidaten sind im Übrigen nicht mit klassischen Bewerbern gleichzusetzen und sollten daher auch nicht wie solche angesprochen werden. Die Frage, warum sie sich auf die zu besprechende Vakanz beworben haben, verbietet sich von selbst. In diesem Kontext hat sich das Unternehmen über den Berater beim Kandidaten beworben und sollte sich dieses Perspektivwechsels auch im gesamten Prozess bewusst sein. Dies erfordert keinesfalls, dass sich Unternehmen anbiedern – ein Austausch auf Augenhöhe zeugt letztlich von beiderseitiger Souveränität und verhindert, dass ein attraktiver Kandidat aus vermeidbaren Gründen den Prozess abbricht.

Arbeitgeberleistungen: Der Markt entscheidet

Kandidaten, die auf die aktive Ansprache eines Headhunters reagieren, interessieren sich nicht für interne Gehaltsstrukturen des suchenden Unternehmens. Sie verfügen über ein aktuelles Einkommen und verlangen in der Regel zumindest eine moderate Steigerung desselben. Hier gelten ähnliche Gesetze wie auf dem Transfermarkt im Spitzensport. Wer Champions-League-Spieler gewinnen möchte, muss entsprechend honorieren. Den Preis bestimmt in diesem Fall der Markt und nicht das gegenwärtige Gehaltsgefüge. Ähnliches gilt für Leistungen, die über das Monetäre hinausgehen. Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice-Lösungen gehören heute zur Standardforderung – und dies gilt nicht nur für die sogenannte Generation Y. Wer als Geschäftsführer auf entsprechende Anfragen eines Kandidaten empfindlich reagiert, weil sein Unternehmen hier noch kein Konzept aufweist, ist im Wettbewerb um die besten Fachkräfte schlicht nicht konkurrenzfähig. Einige Unternehmen überbieten sich im Wettbewerb um begehrte Spezialisten bereits in puncto Arbeitgeberleistungen und haben hiermit eine Entwicklung ins Leben gerufen, der insbesondere viele KMU nicht mehr folgen können. Hier bedarf es künftig kreativer und praxisorientierter neuer Ansätze – nicht nur um Mitarbeiter zu gewinnen, sondern insbesondere, um diese dann auch langfristig im Unternehmen zu halten.

Fazit

Der Wandel im Arbeitsmarkt hat die Anforderungen an ein erfolgreiches Recruiting zweifelsfrei verschärft. Gleichzeitig bietet er jenen Unternehmen, die ihn akzeptieren und entsprechend reagieren, beträchtliche Chancen, sich im Wettbewerb um gut qualifizierte Mitarbeiter durchzusetzen. 

*Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt. Nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige jedes Geschlechts.