Von der Obsoleszenz menschlicher Entscheidungen: Wie Algorithmen das Bauchgefühl vermehrt ersetzen

Künstliche Intelligenz hält zunehmend Einzug in Aufgabenfelder der Personalbeschaffung. Hat der klassische Recruiter bald ausgedient?

Die digitale Transformation durchdringt alle Lebensbereiche – zunehmend auch die Personalabteilungen von Unternehmen. Während neue digitale Recruiting-Technologien größtenteils begrüßt werden und zudem hohe Erwartungen wecken, treffen sie – glaubt man der Studie „Recruiting-Strategien 2018“i – zugleich auf erhebliche Wissenslücken in Unternehmen und unter Recruitern. Sicherlich ist dies ein Grund, warum hierzulande von einer breiten Marktdurchdringung entsprechender Tools noch keine Rede sein kann, während in den USA die Personalauswahl via Roboter bereits zum guten Ton gehört.

Besonderes Augenmerk verdient der Einsatz smarter Algorithmen, die ursprünglich Personalern vorbehaltene Aufgaben automatisiert übernehmen. Große Fortschritte erhofft man sich beispielsweise in puncto Matching, also der bestmöglichen Übereinstimmung von Vakanz und Bewerber. Momentan ist der häufigste Einsatz von KI noch zu Beginn des Bewerbungsprozesses zu verzeichnen. Dies betrifft auch die Vorauswahl passender Kandidaten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und inwiefern KI besser agiert als der Mensch. Eine Umfrage der Universität Bambergii belegt, dass sich Unternehmen vom Einsatz smarter Algorithmen eine schnellere, einfachere und diskriminierungsärmere Personalauswahl erhoffen. Auf Bewerberseite wird diese Entwicklung kritischer betrachtet. Eine entsprechende Befragung an der Hochschule RheinMain zeigt umso geringere Akzeptanzraten, je stärker die KI in den Auswahlprozess eingreift.

Chatbots punkten insbesondere bei jüngeren Bewerbern

Der Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Personalarbeit ist keineswegs ein Novum: Dass Chatbots eine Vielzahl sich wiederholender Bewerberfragen autonom und effizient auf Basis einer Wissensdatenbank beantworten, gehört in vielen Unternehmen bereits zum Standard. Sie organisieren den Erstkontakt zum Kandidaten rund um die Uhr und beantworten selbstständig Bewerberfragen per Chat. Der Chatbot Mya des Start-ups Mya-Systems, der unter anderem bei L’Oréal zum Einsatz kommt, ist in der Lage, den Bewerbern Sachfragen zu stellen und zu entscheiden, ob ihr Profil den vorgegebenen Anforderungen entspricht. Dabei lernt der Chatbot von Mya-Systems mit jeder Interaktion dazu und passt seine Antworten entsprechend an. Das Echo auf Bewerberseite fällt positiv aus, insbesondere innerhalb der Generation Y – sie schätzt die kurzen Antwortzeiten und durchgehende Erreichbarkeit sowie die Applikation via Smartphone.

CV-Parsing schafft Freiräume für komplexe Aufgaben

Weiter Verbreitung erfreut sich der Einsatz des CV-Parsing: Wesentliche Daten aus dem CV oder aus Online-Profilen werden automatisch ausgelesen und in eine Bewerberdatenbank transferiert. Teils kommen Algorithmen zum Einsatz, welche die Lebensläufe auswerten und dem Recruiter eine Shortlist zur Verfügung stellen. Im Rahmen dieser Übereinstimmungsanalyse gleicht das System zuvor eingespeiste Stellenanforderungen und vorliegende Bewerberqualifikationen ab und ordnet automatisch passende Kandidaten mit einer prozentualen Angabe der Übereinstimmung zu.

Parsing offenbart allerdings auch Schwächen: Während der menschliche Leser Rechtschreibfehler verzeiht oder schlicht übersieht, führen diese bei der Software zur Nichterkennung und schlimmstenfalls zu einer Aussortierung. Werden zudem nicht die lokal üblichen unternehmens- oder branchentypischen Keywords verwendet, können auch exzellente Nichtmuttersprachler durchaus in der Ablage landen. Auch gebrochene Lebensläufe, die für den geschulten Personalerblick eventuell einen besonderen Wert erkennen lassen, rutschen so durch das Raster. Das Ergebnis ist eine Liste nach gewissen Kriterien idealer, aber zugleich recht homogener Kandidaten.

Die genannten Verfahren bieten sich insbesondere an, um Routinetätigkeiten zu übernehmen, etwa die Analyse von Unterlagen und Daten, insbesondere, wenn digitale Daten in großer Menge vorliegen. Zudem verspricht der Einsatz von KI auch den Kandidaten einen komfortableren Bewerbungsprozess und Mehrwert durch kürzere Reaktionszeiten und zeitsparende Prozesse.

Robot Recruiting greift in die Vorauswahl ein

Der Einsatz smarter Algorithmen dringt inzwischen jedoch auch vermehrt in Aufgabenfelder vor, die bislang menschlichem Handeln vorbehalten waren. Unter dem Stichwort Robo-Recruiting erstellen Algorithmen auf Basis einer Sprach- oder Textanalyse ein Persönlichkeitsprofil, aus welchem Unternehmen hoffen, Informationen zum Cultural Fit und zu möglichen Defiziten zu erhalten. Die Ergebnisse werden als Grundlage für persönliche Gespräche genutzt.

Beispielhaft sei das Programm der Softwarefirma Precire aus Aachen genannt. Deren Algorithmus zieht auf Basis der Analyse des individuellen Sprachmusters (Stimmmodulation, Sprechgeschwindigkeit, Wortschatz etc.) unabhängig vom Gesprächsinhalt Rückschlüsse auf kommunikative und persönliche Kompetenzen. Mittlerweile kann KI nämlich anhand von Stimme und Sprache Emotionen besser bewerten und Studien legen nahe, dass die Wortwahl Einblick in die Persönlichkeit ihres Verfassers erlaubt.iii Datenbasis ist eine 6.000 Personen umfassende Stichprobe – und auch hier entwickelt sich der Algorithmus weiter und lernt mit jeder Sprachprobe dazu. Einen Schritt weiter gehen internationale Konzerne wie Hilton, Goldman Sachs, JP Morgan oder Unilever, die Videoanalysen anwenden, in denen auch Mimik und Gestik berücksichtigt werden. In der Wissenschaft mehren sich jedoch Zweifel an der prädiktiven Validität dieser Verfahren, weil hier kaum Vorhersagen zur späteren beruflichen Leistung ermittelt werden können, da keine entsprechenden Studien vorliegen.

In den USA bietet Pymetrics an, passende Bewerber anhand eines Computerspiels zu eruieren. Hinter den Spielen verbergen sich Persönlichkeitstests: Ein Algorithmus trifft Prognosen zur künftigen Leistungsfähigkeit anhand des Vergleichs mit bestehenden Mitarbeitern. In einer selbst in Auftrag gegebenen Studie stellte Pymetrics fest, dass über das eigene Tool auf Kundenseite rekrutierte Mitarbeiter erfolgreicher arbeiten und weniger Fluktuation aufweisen.

Nicht jede KI wird von Bewerbern gleich stark akzeptiert

Die Akzeptanz auf Bewerberseite hängt (noch) von der Art der eingesetzten KI ab. Je tiefer diese in die Persönlichkeit eindringt, desto abwehrender ist die Haltung auf Bewerberseite. Die Übernahme von Routineaufgaben und damit verbundene Effizienzvorteile werden hingegen eher begrüßt. Insgesamt steigt die Akzeptanz mit der Zunahme des wahrnehmbaren Eigennutzensiv. Der vollständige Verzicht auf menschliche Interaktion zugunsten von Maschinen im Rahmen der Personalauswahl wird von einer überwiegenden Mehrheit abgelehnt. Auch eine automatisierte Vorauswahl geht den Kandidaten deutlich zu weit, sie erwarten, dass die entscheidenden Interaktionsprozesse unter Menschen stattfinden. Gut 20 Prozent der Befragten einer 2018 durchgeführten Umfragev lehnen den Einsatz entsprechender Verfahren kategorisch ab. Prescreening-Interviews mittels sprachgesteuerter digitaler Assistenz erachten nur fünf Prozent der befragten Fach- und Führungskräfte als akzeptabel, bei den befragten Studenten fällt die Zustimmung noch geringer aus. Weitere Studien zeichnen ein differenzierteres Bild: So versprechen sich insbesondere Frauen von Algorithmen ein vorurteilsfreieres Auswahlverfahren.

Wie der Einsatz KI-gesteuerter Prozesse zu bewerten ist

Den Einsatz von KI zur Vorhersage menschlichen Verhaltens unter Verwendung historischer Daten bezeichnet man als Predictive Analytics. Dieses Phänomen kennt heute jeder Amazon-Kunde in Form von Produktempfehlungen.

Die Personalauswahl folgt einem vergleichbaren Prozess: Auf Basis der Angaben in Lebenslauf und Anschreiben werden Rückschlüsse auf das Verhalten, Prognosen für künftige Handlungsweisen und somit die Eignung des Bewerbers für die Vakanz gezogen. Im Rahmen des persönlichen Vorstellungsgesprächs wird dann der erste Eindruck aus den Unterlagen insbesondere mit Blick auf die Soft Skills überprüft. Solange entsprechende Vergleiche und Annahmen von Menschen vorgenommen werden, unterliegen sie typischerweise Urteilsverzerrungen wie Sympathieeffekten oder dem Halo-Effekt; Objektivität und Vorurteilsfreiheit sind daher fraglich. Der Erfolg einer Bewerbung hängt eben letztlich doch davon ab, wer sie bewertet. Einige Merkmale werden im Rahmen einer menschlichen Beurteilung häufig diskriminiert, zum Beispiel der Migrationshintergrundvi. Genau hier setzt der hypothetische Vorteil von KI an: die Chance auf eine höhere Objektivität in der Beurteilung von Bewerbern.

Doch ist eine KI-gesteuerte Personalauswahl wirklich diskriminierungsfrei? Auf den ersten Blick sind für eine Maschine Vorlieben und Präferenzen zunächst irrelevant – Algorithmen versprechen hier ein höheres Maß an Objektivität. So ermöglicht nach Meinung von über 66 Prozent der Unternehmen ein KI-getriebenes Matching-Tool eine diskriminierungsfreie Auswahl anhand objektiver Beurteilungen. Die Realität offenbart jedoch ein anderes Bild: So zeigte das automatische Bewertungssystem von Bewerbungen bei Amazon, dass auch Bewerbungsroboter diskriminieren können – in diesem Fall Frauen. Seit 2014 war intern ein Algorithmus entwickelt worden, der unter mehreren Bewerbungstexten automatisch jene der vielversprechendsten Bewerber herausfiltern sollte. Die zugrunde liegende Datenbasis fußte auf Erkenntnissen aus den Unterlagen bereits eingestellter Bewerber. Da diese jedoch von technikaffinen Männern dominiert wurden, filterte der Algorithmus Bewerberinnen systematisch heraus. Der ursprüngliche Plan, die Software den Auswahlprozess komplett übernehmen zu lassen, wurde aufgegebenvii.

Input schafft Output

Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass die Qualität der Entscheidung eines Roboters letztlich von der Qualität des eingespeisten Datensatzes und vom folgenden Training abhängt. Ein Algorithmus analysiert und bewertet vom Menschen vorgegebene Daten und erstellt daraus Zusammenhänge mit einer Vergleichsgruppe. Enthält die Datenbasis Tendenzen, dann kann dies zu fehlerhaften und diskriminierenden Algorithmen führen, die konsequent reproduziert werden. Hieraus folgt die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Kontrolle und Einschätzung der zugrunde liegenden Daten und der daraus resultierenden Urteile. Ein weiteres Risiko besteht in der Tatsache, dass KI lernende Algorithmen kennzeichnet. Wie diese im weiteren Verlauf zu ihren Ergebnissen gelangen, ist irgendwann nicht mehr nachvollziehbar – die genaue Funktion wandert in die Blackbox und weder Bewerber noch Personaler können einschätzen, warum ein Kandidat abgelehnt oder befürwortet wird.

Wenn sich aber die Verantwortung für Recruiting-Prozesse zunehmend vom Menschen in Richtung Maschine verschiebt, stellt sich die Frage, wie sich Bewerber künftig gegen Diskriminierung wehren sollen – dies vor dem Hintergrund, dass Algorithmen allgemein als objektiv und vorurteilsfrei gelten. Außerdem bleibt anzuzweifeln, ob es ethisch verantwortbar ist, einer Künstlichen Intelligenz Entscheidungsprozesse zu überlassen, die so intensiv in das Schicksal eines Individuums eingreifen. Offenkundig darf nicht nur das technisch Machbare im Fokus stehen. Aktive Kommunikation und Aufklärung sind erste Lösungsansätze, die einem intensiveren Einsatz von KI den Weg ebnen werden.

Fazit

Robot Recruiting ist heute noch nicht in der Lage, den gesamten Recruiting-Prozess zu übernehmen. Die letzte Entscheidungsinstanz liegt (noch) in menschlicher Hand, die Verantwortung für die Personalbeschaffung im Unternehmen haben die Recruiter inne. Deren Rolle wird sich in den kommenden Jahren jedoch eklatant verändern. Während ein Computer in Millisekunden Bewerbungsunterlagen screenen und bewerten kann – und dies wohl mindestens in ähnlicher Qualitätviii – hat der Recruiter die Aufgabe, sich intensiver mit den vorselektierten Kandidaten zu befassen. Der Wegfall rein administrativer Aufgaben ermöglicht es ihm, stärker als bisher zu Markenbotschaftern seines Arbeitgebers zu werden. Darüber hinaus müssen Recruiter dafür Sorge tragen, dass die automatisierte Vorauswahl von Bewerbern und die homogene Passung der Mitarbeiter nicht zu Lasten von Diskurs und Veränderungsfähigkeit gehen. Die neuen Technologien und Kommunikationskanäle sowie höhere Bewerbererwartungen sorgen letztlich für ein verändertes Kompetenzprofil des Recruiters: Netzwerkfähigkeit, ein Verständnis für unterschiedliche Zielgruppen samt medienadäquater Ansprache sowie ein Ausbau der eigenen Selektions- und Gesprächsführungskompetenz. Der verstärkte Umgang mit Software-Lösungen erfordert technisches Verständnis und Know-how – so wird Recruiting mehr und mehr zu einem Expertenjob.

Daher ist der Beruf des Recruiters durch die voranschreitende Digitalisierung auch nicht bedrohtix, obgleich Studien zu den Automatisierungsrisiken für Beschäftigte postulieren, die Hälfte aller Berufe sei gefährdet. Entsprechend fürchten auch nur vier Prozent der Recruiter, durch die Digitalisierung ihre Arbeitsstelle zu verlierenx.  Der Job-Futuromat der Bundesagentur für Arbeit, der das Substituierbarkeitspotenzial einzelner Berufsgruppen angibt, kommt zu dem Ergebnis, dass 38 Prozent der Tätigkeiten des Recruiters bereits heute von Robotern übernommen werden können. Die technische Machbarkeit gibt jedoch keine Auskunft über die Sinnhaftigkeit. Die Digitalisierung wird sich nicht aufhalten lassen – die Frage nach der Übernahme bislang von Menschen vollzogener Handlungen durch Algorithmen lautet also nicht „ob“, sondern „wann“. Einen entscheidenden Vorteil erlangt, wer sich frühzeitig aktiv mit den Risiken und Chancen auseinandersetzt.

i   Zeitschrift Personalwirtschaft in Zusammenarbeit mit talentry, textkernel und StepStone. Recruiting-Strategien 2018: Erfolgreiche Instrumente zur Bewerbersuche.
ii   Weitzel, T., Laumer, S., Maier, C. u. a. Recruiting Trends 2017.

iii Pennebaker, J. W., King, L. A. Linguistic Styles: Language as an Individual Difference. 1999.
iv Petry, T. Social Media Personalmarketing Studie 2016.
v   Recruiting Strategien 2018.
vi Koopmans, R., Veit, S., Yemane, R. Ethnische Hierarchien in der Bewerberauswahl: Ein Feldexperiment zu den Ursachen von Arbeitsmarktdiskriminierung. 2018.
vii Dastin, J. Amazon scraps secret AI recruiting tool that showed bias against women. 2018. www.reuters.com/article
viii Campion, M. C., Campion, E. D., Campion, M. A., Reider, M. H. Initial Investigation Into Computer Scoring of Candidate Essays for Personnel Selection. Journal of Applied Psychology, 101/7, S. 958–975.
ix Frey, C., Osborne, M. A. The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerization? 2013.
x   Monster, CHRIS. Recruiting Trends 2018.