Bewerbungserlebnis im Arbeitnehmermarkt: Individualismus als Gebot der Stunde

Fachkräftemangel, Vollbeschäftigung und der demografische Wandel stellen Unternehmen aktuell vor immense Herausforderungen. Der Wettbewerb um qualifizierte sowie wechselwillige Fach- und Führungskräfte erfordert Veränderungen der bisherigen Rekrutierungspraxis. Insbesondere der Umgang von Arbeitgebern mit Bewerbern birgt Optimierungspotenzial – Stichwort Candidate Experience. In seiner Funktion als Personalberater steht unser Kollege Oliver Stübs im täglichen Kontakt zu Bewerbern und Kandidaten und begleitet diese durch vielfältige Rekrutierungsprozesse. Im Gespräch erläutert er seine Erfahrungen und verschafft wertvolle Einblicke in das persönliche Feedback seiner Kandidaten.

Welche Rückmeldungen erhältst Du von Deinen Kandidaten in puncto „Candidate Experience“?

Die Erwartung eines positiven Bewerbungserlebnisses hat erheblich zugenommen und bezieht sich auf die Gesamtheit der Berührungspunkte eines Bewerbers mit dem potenziellen neuen Arbeitgeber. Hierzu gehören bspw. auch der Auftritt des Unternehmens in Sozialen Medien, Bewertungen auf den heute gängigen Arbeitgeberbewertungsplattformen oder die Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit des eingesetzten Bewerbermanagementsystems. Somit ist die Candidate Experience auch Teil des Employer Brandings. Knapp die Hälfte meiner Gesprächspartner berichtet von Bewerbungsprozessen, die nicht überzeugt haben. Erschreckend, wenn man bedenkt, dass das im Bewerbungsprozess gebildete Vertrauen den Grundstein für die folgende – hoffentlich langfristige – Zusammenarbeit legt.


An welcher Stelle im Rekrutierungsprozess hapert es Deiner Meinung nach am häufigsten?

Auch wenn alle Stationen der Candidate Journey besondere Beachtung verdienen, bilden in meinen Augen das Vorstellungsgespräch und die unmittelbar vor- und nachgelagerten Interaktionen die kritischste Phase. Fühlen sich Kandidaten hier unangemessen behandelt, ist eine Fortführung des Prozesses in der Regel wenig erfolgversprechend. Zugleich können aber auch gut aufgestellte Unternehmen hier einen entscheidenden Vorsprung im Kampf um die besten Köpfe erlangen. Ein Großteil der Unternehmen feilt bereits an der eigenen Arbeitgebermarke, gestaltet bspw. ansprechendere und übersichtlichere Karriereseiten und/oder optimiert eingesetzte Bewerbungstools. Doch in der direkten Kommunikation mit der Zielgruppe trifft man weiterhin auf deutliches Potenzial, den Rekrutierungserfolg zu steigern. Auch die Abwicklung des Auswahlverfahrens und die Organisation des Bewerbermanagements sind häufige Kritikpunkte meiner Gesprächspartner. Diese beklagen zudem, dass sie sich in ihrer Individualität nicht wahrgenommen fühlen. Das entspricht auch den Ergebnissen einer bereits 2016 von Prof. Dr. Seifert (Philipps-Universität Marburg) in Kooperation mit softgarden durchgeführten Studie zur Candidate Experience.


Worüber äußern Deine Kandidaten die größte Verärgerung?

Insbesondere beklagen Kandidaten, dass Ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet wird. Sie erwarten nicht „als König“ behandelt zu werden, empfinden jedoch eine Asymmetrie, die zum Teil als mangelnder Respekt ausgelegt und den Realitäten des Arbeitsmarktes nicht gerecht wird. Beispielsweise erlebe ich immer wieder, dass Bewerber im Eingangsbereich oder in einem Durchgangsflur „geparkt“ werden, bis die unternehmensseitigen Gesprächspartner sie – häufig deutlich verspätet – zum eigentlichen Gespräch abholen. In der Zwischenzeit fungieren sie als Begutachtungsobjekt für sämtliche passierenden Mitarbeiter. Bei dem einen oder anderen Bewerber schlägt sich dies direkt auf die Grundstimmung nieder. Im Rahmen unserer Suchmandate müssen wir den Kandidaten (häufig vom direkten Wettbewerb) ebenso Diskretion zusichern wie unseren Kunden. Auch vor diesem Hintergrund ist die geschilderte Praxis ein absolutes No-Go. An dieser Stelle sei erwähnt, dass das ungeschriebene Gesetz bezüglich des ersten Eindrucks für beide Seiten gilt.

Zudem bemängeln viele Kandidaten, man habe sich auf Unternehmensseite zu wenig Zeit für sie genommen. Einige reichen für das Vorstellungsgespräch einen Urlaubstag ein und nehmen teils eine mehrstündige An- und Abreise auf sich. Dieser Aufwand ist mit der Übernahme der Reisekosten keinesfalls abgegolten. Hier nach 45 Minuten das Gespräch zu beenden, weil noch Folgetermine anstehen, ist unangebracht. Ebenso sendet der regelmäßige Blick auf die Armbanduhr ein unmissverständliches Signal. Dies gilt im Übrigen völlig unabhängig davon, ob der Kandidat für weitere Gespräche in Betracht gezogen wird oder nicht. Jeder Kandidat, der im Unternehmen vorstellig wird, ist ein Multiplikator seiner Erfahrung vor Ort und wird diese im Freundes- und Kollegenkreis weitergeben.
Meiner Meinung nach unterschätzen viele Unternehmen immer noch die Bedeutung von Bewertungsportalen und das Risiko des Reputationsverlustes als Arbeitgeber. Bewerber nehmen diese Resonanzkanäle nicht nur zur Kenntnis, sondern lassen sie zunehmend als Kriterium in ihren Entscheidungsprozess einfließen. In unseren Direktansprachen treffen wir zudem immer wieder auf spannende Kandidaten, die ein Unternehmen aufgrund eines missratenen Prozesses in der Vergangenheit auf ewig vergrault hat.

Außerdem verpassen noch immer viele Unternehmen die Chance, ihren Kandidaten einen Einblick in das Unternehmen und den künftigen Arbeitsplatz zu gewähren. Sicherlich ein Schritt, den die Verantwortlichen auf die wirklich validen Kandidaten konzentrieren müssen, aber gerade in Bezug auf diese ist er essenziell. Es ist abwegig zu erwarten, dass ein gut situierter Arbeitnehmer seinen sicheren Hafen verlässt, ohne zumindest einen groben Eindruck vom künftigen Arbeitsplatz gewonnen zu haben. Erfahrungen im Bewerbungsprozess prägen nachhaltig die Vorstellung vom Unternehmen und seiner Kultur. Hier lauert Potenzial, um die Employer Brand zu stärken. Wenn es an dieser Stelle gelingt, die Begeisterung eines Kandidaten für Team und Produkte zu entfachen, finden etwaige Verhandlungen über Rahmenbedingungen unter völlig anderen Vorzeichen statt.


Ist es nicht verständlich, dass Prozesse aus Gründen der Effizienz verkürzt und insbesondere nicht überzeugende Kandidaten zügig „abgearbeitet“ werden?

Als Recruiter muss ich dieser Auffassung widersprechen. Die Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte ist eine Kernaufgabe jedes Unternehmens, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, und sollte entsprechendes Gewicht in der Priorisierung erhalten. Ein effizienter Umgang mit zeitlichen Ressourcen im Vorfeld eines Gespräches ist meiner Ansicht nach ein erfolgversprechender Weg, Engpässen zu begegnen, und wird auf Kandidatenseite wahrgenommen und honoriert. Vom Bewerber wird erwartet, dass er sich im Vorfeld des Interviews ausgiebig über das Unternehmen informiert. Im Umkehrschluss darf er davon ausgehen, dass seine eingereichten Unterlagen vor dem persönlichen Kontakt ebenso gründlich gesichtet und analysiert werden. Im Alltag erleben wir dennoch regelmäßig in die Unterlagen vertiefte Gesprächspartner, die den Eindruck erwecken, sich zum ersten Mal intensiv mit dem jeweiligen CV zu befassen. An den Kandidaten gerichtete Standardfragen, die der Lebenslauf bereits beantwortet, verstärken diese Einschätzung und stellen den Kandidaten vor die Frage, aus welchen Gründen man ihn eigentlich eingeladen hat. Eine gründlichere Analyse und Vorauswahl schaffen hier zeitliche Ressourcen, indem nur wirklich passende Kandidaten eingeladen und die Interviews auf die entscheidenden Themen fokussiert werden. Dadurch gewinnt der Kandidat sofort das Gefühl, dass man sich mit ihm und seinem Profil auseinandergesetzt hat – ein besseres Zeugnis der Wertschätzung kann ein Unternehmen kaum liefern.

Ich stelle auch die gängige Praxis infrage, eingeladene Kandidaten im Erstgespräch zunächst einmal „abzutasten“, um „die Chemie“ zu prüfen und dann im Rahmen eines Zweitgespräches in medias res zu gehen. Ein wirklicher Zeitkiller, der dafür sorgt, dass die entscheidenden Verhandlungen der Rahmenbedingungen dann häufig auf dem Zweitgespräch folgende Telefonate und E-Mail-Kontakte verschoben werden. Der Prozess wird nochmals in die Länge gezogen und scheitert schlimmstenfalls daran, dass vorhandene Diskrepanzen nicht im persönlichen Gespräch offen angesprochen und geklärt wurden.


Welche Defizite gibt es im Bereich des Bewerbermanagements?

Zwar hilft der mittlerweile gängige Einsatz entsprechender ATS, den Prozess zu professionalisieren und dem Kandidaten wie dem Recruiter ein höheres Maß an Komfort zu gewährleisten, jedoch ersetzen die Tools nicht die individualisierte, zeitnahe und proaktive Kommunikation. Bewerber erwarten eine schnelle und transparente Abwicklung des Prozesses, unerklärte Verzögerungen werden selten akzeptiert. Die Candidate-Journey-Studie 2017 kommt zu dem Ergebnis, dass ein positives Bewerbungsverfahren maximal sechs Wochen andauern darf, wenn eine sehr positive Candidate Experience erzielt werden soll. Liegt ein valider und am Arbeitsmarkt begehrter Kandidat vor, gilt es, diesem frühzeitig ein positives Signal zu senden und eine Einladung zügig zu organisieren. Im Zweifel gibt es weitere Mitstreiter, die auch interessiert sind, und am Ende setzt sich das schnellere Unternehmen durch – auch weil es dem Kandidaten dadurch größeres Interesse signalisiert hat.

Häufig nimmt die Abstimmung zwischen HR und Fachbereich zu viel Zeit in Anspruch, zum Teil, weil Fachvorgesetzte die Situation auf dem Arbeitsmarkt falsch einschätzen. Ich habe allerdings auch schon erlebt, dass Gespräche verschoben wurden, weil man intern keinen freien Besprechungsraum organisieren konnte. In solchen Situationen sind wir als Berater gefordert, um einerseits die Kandidaten im Prozess zu halten und andererseits auf Kundenseite die Sensibilität für die Erwartungshaltung auf Kandidatenseite zu steigern. Wir können Verzögerungen zum Teil auffangen, aber auch uns ist es nicht möglich, guten Kandidaten auf einem Arbeitnehmermarkt verständlich zu machen, warum sie wochenlang auf ein konkretes Unternehmensfeedback warten müssen. Dieses ist übrigens essenzieller Bestandteil des Bewerbermanagements – auch im Umgang mit abgelehnten Kandidaten. Diese erwarten ein konkretes und individuelles Feedback, das ihnen eine ehrliche Begründung für die negative Entscheidung zugesteht. Standardabsagefloskeln durch HR-Abteilungen werden als respektlos bewertet. Noch enttäuschender sind diese, wenn sie erst Wochen später oder gar nur auf Nachfrage erfolgen. Die resultierende Schädigung des Arbeitgeberimages kann im Übrigen auch mit einem Verlust der Wertschätzung der Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmens korrelieren.


Eine Vielzahl an Unternehmen hat schlicht nicht die Größe und Kapazität, um eine geschulte HR-Abteilung und unterstützende Systeme einzusetzen. Hinzu kommen Urlaubszeiten oder Krankheitsfälle, die Engpässe verschärfen. Was empfiehlst Du diesen Unternehmen?

Größere Unternehmen verfügen über andere Möglichkeiten, die Rekrutierung professionell zu gestalten – zugleich stellen Bewerber an sie aber auch höhere Ansprüche im Bewerbungsprozess. Kleine
Einheiten haben in der Regel weniger Vakanzen zu besetzen und können in puncto Wertschätzung und individuelle Ansprache häufig schneller punkten, weil bspw. der Geschäftsführer dem Kandidaten vom Erstgespräch an gegenübersitzt. Insbesondere im Bewerbermanagement im Vorfeld und Nachgang der Gespräche können solche Unternehmen zu leistungsgerechten Konditionen unterstützt werden. Wir bieten im Rahmen unseres Letterbox-Services eine entsprechende Dienstleistung an. Zu Beginn erfolgt die Erstellung und Schaltung einer zielgruppengerechten Anzeige in relevanten Medien. Es folgt die begleitende und individuelle Bewerberkommunikation inklusive Einladungs- und Absagenmanagement. Wir stehen den Kandidaten während des gesamten Bewerbungsprozesses als Ansprechpartner für alle Fragen zur Verfügung. Auf Wunsch bieten wir dem Kunden auch eine analysierte Vorauswahl (ABC-Analyse) der eingegangenen Bewerbungen an. Dadurch kann sich das Unternehmen vollständig auf die Gespräche vor Ort und die finale Auswahl eines Kandidaten konzentrieren – insbesondere für Arbeitgeber mit kleiner oder gar nicht vorhandener HR-Abteilung eine komfortable und gut realisierbare Lösung.


Letterbox-Service

Top-Kandidaten erwarten zu Recht, dass ihnen ein gut erreichbarer Ansprechpartner zur Verfügung steht. Eine intensive Betreuung Ihrer Bewerber bindet jedoch Kapazitäten, die an anderer Stelle fehlen. Auch gibt es Situationen, in denen eine offene Ausschreibung nicht gewünscht oder empfehlenswert ist – ob aus Diskretionsgründen oder aufgrund interner Belange.

Unser Letterbox-Service entlastet Sie von administrativen Routinen, sorgt für Diskretion in der Ausschreibung und gewährleistet eine erstklassige Candidate Experience. Wir bieten Ihnen ein umfangreiches Portfolio an Support-Leistungen, die wir in Abstimmung mit Ihnen zu einem stimmigen Gesamtpaket schnüren:

•    Unterstützung bei der inhaltlichen Optimierung Ihrer Stellenausschreibung
•    Erstellung der Anzeigenvorlage und Platzierung via optimaler Kanäle
•    fachkundige Beantwortung von Bewerber-Rückfragen durch unsere Personalberater
•    Versand von Eingangsbestätigungen, Einladungen, Zwischenbescheiden und Absagen
•    Screening eingegangener Bewerbungen und Vorauswahl per ABC-Analyse
•    Background-Checks und Einholen von Referenzen